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Masuren. Und einmal quer durch Polen. Eine Reise unter Segeln.

Stefan Schneider

 

Propaganda. Mein Großvater hätte genau gewusst, wo ich segeln will: "Spirdingsee? Das ist doch da, wo die ganzen Russen ersoffen sind." Mein Großvater hat diesen Satz tatsächlich so gesagt auf dem  Allensteiner Markt und musste flugs das Weite suchen. Denn die Fischerfrauen vom Spirdingsee haben die Polizei gerufen wegen geschäftsschädigendem Verhalten. Wer wollte schon solche Fische essen? Die politische Aufladung dieser Region ist heute Vergangenheit und auch die sogenannten Heimwehtouristen sind kaum noch anzutreffen.Die Masurischen Seen liegen heute in der Europäischen Union, und wer dort segeln will, chartert unkompliziert vor Ort ein Boot oder trailert sein eigenes da hin. Und mein Großvater hatte unrecht. Es ist zwar richtig, dass in der Schlacht von Tannenberg 1914 tausende Russen starben, aber  dass sie in den Masurischen Seen ertrunken sind war nichts weiter als eine Propagandalüge der Kaiserdeutschen Kriegsmaschinerie, die mein Großvater unreflektiert übernommen hatte.

Anstiftung. Dass ich diesen Törn überhaupt unternehme, verdanke ich letztlich meiner Mutter. 1992, ich hatte gerade meinen Segelschein gemacht, überrede ich eine Freundin, mit mir nach Gizycko zu fahren und dort für drei Wochen ein Boot zu mieten und die Masurischen Seen zu erkunden. Dieser Plan spricht sich natürlich herum und zu meinem Geburtstag, wenige Wochen vor der geplanten Abreise, schenkt meine Mutter mir das gerade frisch erschienene Buch von Monika und Johannes Ritter: Segeln in Masuren. Mauersee - Talter Gewässer - Spirdingsee - Beldahnsee - Niedersee. Hamburg : Edition Maritim, 1992 (ISBN: 3892252505). Das Buch ist heute vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich. Dort ist der Wasserweg von der Oder bis zu den Masurischen Seen beschrieben mit Kilometerangaben. Nach dem traumhaften Urlaub 1992 in Masuren träume ich davon, diese Strecke mit eigenem Boot zurückzulegen. Da ein Anmotoren gegen die Strömung nicht in Frage kommt, ist nur der Rückweg eine sinnvolle Option. Die Strecke verläuft – fast durchgehend mit der Strömung - über die Flüsse Pisa, Narew, Weichsel - zwischen Warschau und Bydgoszcz -, dem Kanal Bydgoski, der Netze und Warte zur Oder. Das ist nur mit einem flachgehenden Boot möglich, da die Tauchtiefe der Pisa mit 50cm angegeben ist. Mit meinem 15er Jollenkreuzer, der auf den Namen TakToJest (Polnisch für: "Ja, so ist das!") hört, habe ich also das ideale Boot für diese Reise. Im Sommer 2011 kommt nun alles zusammen. Thomas vom Nachbarverein leiht mir seinen Trailer, Matthias fährt mich mitsamt Boot nach Masuren und bringt den Trailer leer nach Berlin zurück und ich habe 6 freie Wochen vor mir ohne Termine. Ich kann meinen Traum verwirklichen. Aber wird er gelingen?

Kanal von Gizycko - Foto: Hans Hopp
Hafen Lok Mazury in Gizycko - Foto: Stefan Schneider

Ekstase und Einsamkeit. Die Masurischen Seen sind seglerisch vergleichbar mit den Mecklenburgischen Seen und doch anders: Die Seen sind voluminöser oder aber deutlich länger gestreckt, so dass mehr Segelkilometer zusammen kommen und bisweilen eine ganz schöne Welle steht. Vom äußersten nördlichen bis zum äußersten südlichen Punkt sind gute 100 km auf dem Wasserweg zurückzulegen und ein Motor ist nur auf den kanalisierten Abschnitten erforderlich. 6 größere Ortschaften strukturieren den Raum: Wegorzewo im Norden, Pisz im Süden, dazwischen Gizycko, Ryn und Ruciane-Nida, dazu Mikolajki  im Zentrum, das als das Venedig Masurens gilt. Die Orte lassen keine Wünsche offen bezüglich Marinas, Slip- und Krananlagen, Werkstätten, Tankstellen, offenes WLAN sowie touristischer Infrastruktur mit Restaurants, Clubs, Mode-Outlets, Reiseandenken und weiteres. Wer in der Saison und vor allem am Wochenende diese Orte anläuft, kann sich auf Party bis zum Morgengrauen gefasst machen. Dafür gibt es hier so gut wie keine Mücken. Nur wenige hundert Meter jenseits dieser Zentren ist Natur pur angesagt, und in den zahllosen Buchten finden sich zwischen Schilf- und Baumbeständen genug idyllische Ankerplätze zum Entspannen und Baden. Allerdings mit zahlreichen Mücken. Es ist genau dieser Gegensatz zwischen Natur und Kultur, der dem Revier seine ganz besondere Prägung gibt. Und auch wenn der Motorisierungsgrad in den letzten zwanzig Jahren erheblich angestiegen ist, was sich negativ vor allem am Wochenende bei Schwachwind bemerkbar macht, ist das Revier groß genug auch für Wassersportler, die überwiegend Erholung suchen. Meine Favoriten sind die Insel Gilma, auf der fast völlig überwucherte Ruinen zu finden sind sowie Orkatowo am äußersten östlichen Ende des Sniardwy, ein charmanter kleiner Ort, in den sich kaum ein Segler verirrt.

Okatowo am Sniardwy - Foto: Stefan Schneider
Steg Okatowo am Sniardwy